Der Riss. Der Platz als Zeuge –
Die Kunstgalerie Heinemann
Fassadeninstallation, München 2006
Fassadenposter in der Nachbarschaft
Lenbachplatz 5 – Geschäftssitz einer Familie von Münchner Galeristen und Mäzenen
Beschreibung
An der Fassade des Gebäudes am Lenbachplatz 5 in München ließ Stefan Römer ein großformatiges Poster anbringen (Ink-Jet-Print auf Netzvinyl). Druckmotiv war eine exakte Imitation der historischen Hausfassade, erstellt anhand einer Abbildung aus dem Buch »München und seine Bauten nach 1912« (Bruckmann 1984) von 1910, auf der auch der Schriftzug der »Gemäldegalerie Heinemann« zu sehen ist (Stadtarchiv München). Das Fassadenposter ließ die Hälfte der Fassade frei, die Schnittkante war als unregelmäßiger Riss gestaltet.
Hintergrund
David Heinemann wurde 1819 geboren und studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste München von 1838 bis 1841. Erst 1852 erhielt er die offizielle Erlaubnis zur »Ansässigmachung«; 1883 eröffnete er eine Kunsthandlung im Hotel Max Emanuel am Promenadeplatz, die einen ausgezeichneten Ruf genoss. Nach seinem Tod 1902 führten die Söhne Hermann und Theobald Heinemann die Galerie erfolgreich weiter – ab 1913 in neuen Räumlichkeiten am Lenbachplatz 5 – und zeichneten sich als wichtige Förderer der Münchner Kunstszene aus. Als Theobald Heinemann 1929 starb, übernahmen seine Frau Franziska und sein Sohn Fritz die Galerie. Nach der »Reichskristallnacht« 1938 wurde das Geschäft geschlossen und Franziska Heinemann vorübergehend wegen angeblicher Devisenvergehen ins Gefängnis Stadelheim gebracht. Sie konnte später wie ihr Sohn nach Luzern emigrieren, wo sich die Familie eine neue Existenz aufbaute. Der Nichtjude und bisherige leitende Angestellte der Galerie Friedrich Heinrich Zinckgraf übernahm das Geschäft und leitete es bis zu seinem Tod 1954 als »Galerie am Lenbachplatz« weiter.
Essay
»Wie kann man der abwesenden jüdischen Kultur eine Stimme verleihen, ohne dabei in ihrem Namen zu sprechen?«¹
Mit diesem Zitat des Architekten des Jüdischen Museums in Berlin, Daniel Libeskind, resümiert James E. Young in seiner Untersuchung »Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur« die Bedingungen und Möglichkeiten einer Gedenkarchitektur. Die von Libeskind aufgeworfene Frage bringe ich für die Konzeption meiner Installation über die Galeristen-Familie David Heinemann am Lenbachplatz in München in direkten Zusammenhang mit einer Untersuchung des italienischen Religionsphilosophen Giorgio Agamben. Er fragt nach einer extremen Autorschaft für das Unvorstellbare, nach der Wichtigkeit und der Möglichkeit des Berichtens, des Zeugnisablegens über das, was in den Konzentrationslagern geschah. In Agambens Lektüre dieser Literatur entsteht das Paradox, dass nur die Überlebenden berichten konnten; aber sie taten dies mit einem Schuldempfinden gegenüber denjenigen, die die Lager nicht überlebt haben. Dies nennt Agamben die »ethische Aporie von Auschwitz: es ist der Ort, an dem es nicht anständig ist, anständig zu bleiben, an dem diejenigen, die glaubten, Würde und Selbstachtung zu bewahren, Scham denen gegenüber empfinden, die diese sofort verloren.«²
Um nun das »Ende jeder Ethik der Würde und der Angleichung an eine Norm«³ definieren zu können (denn verstehbar kann es nicht sein), das im Konzentrationslager herrschte, analysiert Agamben in den Berichten der Überlebenden die Figur des »Muselmanns«⁴, die nach Bettelheim gegenüber den anderen KZ-Insassen diejenige ist, die »den unverzichtbaren Spielraum der Freiheit aufgegeben und infolgedessen jede Spur von Gefühlsleben und Menschlichkeit verloren hat«.⁵
An dieser Figur zeichnet sich eine ethische Differenz ab: »Das Prinzip ›keiner will den Muselmann sehen‹ schlägt hier auch auf den Überlebenden durch: Nicht nur verfälscht er sein eigenes Zeugnis (alle Zeugen berichten übereinstimmend, dass niemand im Lager ›freundlich zu den Muselmännern‹ war), sondern er ist sich nicht einmal dessen bewusst, dass er menschliche Wesen in ein irreales Modell verwandelt hat, in eine vegetative Maschine zu dem Zweck, die Unterscheidung von etwas zu ermöglichen, das im Lager ununterscheidbar geworden ist: menschlich und unmenschlich.«⁶
Hier scheint sich eine existenzielle Involviertheit des Berichtenden in das Schicksal derjenigen abzuspielen, die nicht mehr berichten können, und sie affiziert den Bericht, die Darstellung.⁷ Diesen Extremfall des dokumentarischen Akts beziehe ich auf die Form des memoralen Monuments, das in einem so genannten öffentlichen Raum situiert ist. Eine solche existenzielle Hinterfragung der Repräsentation sollte hinter jeder künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema jüdischen Lebens in Deutschland stehen, die sich öffentlich präsentiert. Doch möchte ich auch die Frage stellen: Handelt es sich bei der Zurschaustellung eines Monuments in der Stadt per se um öffentlichen Raum? Der gegenwärtige öffentliche Raum scheint mir deshalb nicht mehr einer traditionell bürgerlich öffentlichen Sphäre zugehörig, weil er vor allem durch korporative Interessen dominiert wird. Dieser Raum ist einfach so teuer, dass nur große Unternehmen es sich leisten können, dort kommunikativ – das heißt zum Beispiel mit Werbung – und räumlich – das heißt mit Immobilien – zu agieren; er steht politisch nicht mehr allen offen. Zudem zieht sich die politische Verwaltung dieses Raums, die Stadtverwaltung, die »öffentliche Hand«, zunehmend aus der Verantwortung zurück. Deshalb arbeite ich in diesem Bereich künstlerisch vor allem mit den dort üblichen Medien und lehne memorale Denkmäler oder langfristige Installationen ab.
Meine Installation »Die Kunstgalerie Heinemann« am Lenbachplatz 5 geht von der Wichtigkeit und der Komplexität der Familiengeschichte von David Heinemann, seinen beiden Söhnen sowie ihrer Nachfahren für die Münchner Galerien und Kunstsammlungen Anfang des 20. Jahrhunderts aus. Das Haus wurde 1903/04 für die Galeristenfamilie gebaut. Aus der Galerie Heinemann ist eine Reihe hervorragender und für die Geschichte der Münchener Kunst symbolträchtiger Gemälde in den Besitz der Pinakothek und somit des bayerischen Staates übergegangen. Meine primären Informationen dazu basieren auf der vom Kulturreferat recherchierten Familiengeschichte der Heinmanns. Meine Arbeit entstand in Kooperation mit Marcel Odenbachs Projekt für das Kulturreferat der Landeshauptstadt München »Jüdisches Leben in München«.
Ursprünglich bestand mein Vorhaben in einer Doppelstrategie: Die Gebäudefassade an der Straße (außen) sollte als Hinweis auf eine Aktion der Historisierung fungieren; im Verkaufsraum des Golfausrüstungsladens (innen), der sich nun in den ehemaligen Galerieräumen befindet, sollte eine Ausstellung stattfinden: Reproduktionen von wichtigen Gemälden, die die Heinemanns in ihrer Galerie ausgestellt und zum Teil als Schenkungen und Dauerleihgaben an Münchner Museen gegeben hatten. Die Kombination dieser Elemente schien mir eine optimale Strategie, um die verloren gegangene Verbindung zwischen der Tätigkeit der Galeristenfamilie und dem so genannten Bayerischen Kulturgut zu markieren.
Wie aus diesem Punkt ersichtlich, wurde das Einvernehmen mit dem Besitzer und den Mietern als Nutzern des Gebäudes zur Realisierung des Projekts unabdingbar. Meiner Ansicht nach wäre das Projekt jedoch nur dann komplett realisiert worden, wenn die Nutzer des Hauses durch eine temporäre öffentliche Funktion im Sinne einer Ausstellung in die Aktion eingebunden worden wären. Leider überstieg mein Entwurf die finanziellen Möglichkeiten des Projekts »Jüdisches Leben, jüdische Geschichte und jüdische Kultur in München«, weshalb er nicht ganz realisiert werden konnte.
Somit kam es nur zu einer Installation an der Hausfassade am Lenbachplatz 5: ein Fassadenposter, das eine exakte visuelle Imitation der halben Fassade in Schwarzweiß darstellt – so als wäre eine alte Fotografie zerrissen –, wobei die andere Hälfte der Gebäudeansicht frei bleibt. Das Fassadenposter markiert das Haus für die Zeit der Ausstellung als einen besonderen Ort. Dass eine Fassade überhaupt auf diese Weise genutzt werden kann, bezieht die hier gegebene Möglichkeit ein, dass das Haus aufgrund seiner exponierten Lage aus der Distanz betrachtet wird und Bestandteil der repräsentativen historistischen Architektur am Lenbachplatz ist. Die zerrissene Darstellung der Fassade meint den imaginären Riss, der durch den Nationalsozialismus und die »Arisierung« der Galerie an diesem Ort entstanden ist: Die Familie Heinemann floh in die Schweiz, das Geschäft wurde »arisiert« und der ehemalige Assistent Friedrich Heinrich Zinckgraf übernahm die Galerie. Das Motiv des Risses spielt eine große Rolle in den Schilderungen der Zeugen des Nazi-Regimes. Wie Agamben bemerkt, tritt der »Riss in der Erinnerung« in den Nürnberger Prozessen sowohl bei den Opfern als auch bei den Tätern immer wieder auf. Das emblematische Motiv des Risses kann, bezogen auf die Hausfassade, auch die Konnotation des »Fassade-Herunterreißens« erhalten. Die Architektur wird in diesem Falle als repräsentative Folie verstanden, die sich den historischen Veränderungen des Straßenbildes anpasst. In diesem Kontext kommt dem Fassadenposter im Sinne einer Werbung vor allem die Funktion zu, Aufmerksamkeit zu erzeugen – so die Fassadennachahmung des Osramgebäudes am Stachus ähnlich einer typisch bayerischen Lüftlmalerei, die während der Bauarbeiten die Originalansicht simuliert; dem entgegen war das neutral weiße Baufassadenposter vor der benachbarten Münchner Börse am Lenbachplatz frei von Werbung.
Mit meiner Inszenierung des Risses zeigt sich eine direkte Verbindung zwischen Marcel Odenbachs Projektentwurf und meiner Konzeption; er schreibt in seinem Projektentwurf: »Bei diesem Projekt soll es nicht um den Genozid als solchen gehen, nicht um die Darstellung des Leids, des Verbrechens und der Gewalt, sondern um die daraus resultierende Konsequenz. Nicht aber um die Konsequenz einer Schuldzuweisung durch die Einteilung in Täter und Opfer, sondern es soll um einen entstandenen Verlust gehen. Nämlich um den Verlust für jeden Einzelnen, für die Gesellschaft, für das kulturelle Leben, für den alltäglichen Lebensraum, für das gesamte Stadtbild. Es fehlt der Nachbar, das Geschäft, der Onkel, der Schulfreund etc., und wenn etwas fehlt, entsteht eine Lücke.« Genau hierauf beziehe ich die Figur des Risses, der die alte Fotografie von der heutigen Fassade trennt. Die visuell zerrissene Fassade bedeutet eine bewusste »Irritation im Stadtbild« (Marcel Odenbach).
Das Medium des Fassadenposters ist die aktuelle Form, an der sich die Korporatisierung des öffentlichen Raums darstellt; deshalb streiche ich »öffentlich« durch. Der Illusionismus hat Warenform angenommen, er wurde von einer Schmuckform der Architektur zu einer Kommerzialisierung der Fassade. Diese gilt es in einer künstlerischen Installation symbolisch herunterzureißen.
Während der Riss in der Fassade öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen sollte, wäre es bei der nicht realisierten Ausstellung im Golfgeschäft darüber hinaus um das Paradox eines fiktiven Projekts gegangen, indem Gemälde gezeigt worden wären, die früher aus diesem Geschäft verkauft worden sind. Es sollte jedoch keine künstliche Raumumfunktionierung für die Ausstellung vorgenommen oder eine historische Ausstellung rekonstruiert werden. Vielmehr sollten die von mir nach historischen und inhaltlichen Bezügen ausgewählten Gemälde in die Dekoration des Golf-Geschäfts integriert und somit nur für diejenigen KunstbetrachterInnen sichtbar werden, die das Geschäft speziell aufsuchen, um sich diese Ausstellung anzusehen.
Auch hier geht es mir um ein Wörtlichnehmen von Marcel Odenbachs Entwurf: »Es ist schwierig, die Umsetzung mit Bildern zu füllen, da es kaum konkretes Material gibt. Die Geschichten und Schicksale sind nicht mehr wirklich sichtbar; sie sind mitgenommen und beseitigt worden, ihre Existenz ist fast virtuell. Also muss man Material rekonstruieren oder Vorhandenes umfunktionieren.«
Mit dieser Arbeit an diesem Ort soll deutlich werden, dass es mir ganz dezidiert um eine Bezugnahme heutiger künstlerisch intellektueller Praxis auf den »Riss« geht, der durch die Austreibung jüdischen kulturellen Kapitals und sozialen Kontexts (im Sinne des Kultursoziologen Pierre Bourdieu) aus der deutschen Kultur entstanden ist. Welche Rolle spielt es bei der Betrachtung von Gemälden im Museum, dass diese vielleicht nur dort zu finden sind, weil sie der Galerist Heinemann der Pinakothek verkauft oder gar geschenkt hat? Wie wäre die Entwicklung der Kunst in München verlaufen, wenn dieser historische Riss nicht erzeugt worden wäre?
Mit meiner künstlerischen Arbeit versuche ich, an dieser Stelle die Funktion jüdischer Kultur im urbanen Text zu artikulieren, um einen Ort als Zeugen zu inszenieren.⁸ Mir geht es darum, einen Riss zu markieren, einen Riss zwischen dem Anwesenden und dem Verlorenen – der Ort als Zeuge.⁹
1 Daniel Libeskind zitiert in: James E. Young, Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur (2000), Hamburg 2002, S. 192.
2 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M. 2003, S. 52.
3 Ibid., S. 61.
4 »Der Zustand zwischen Leben und Tod erwies sich als einer der feststehenden Züge in der Beschreibung des Muselmanns: Er ist schlechthin der wandelnde Leichnam. […] Dass der Tod eines menschlichen Wesens nicht mehr Tod genannt werden kann (nicht einfach nur, dass er keinerlei Bedeutung besitzt – das hatte es in der Geschichte bereits gegeben –, sondern genau dies, dass es nicht mehr mit diesem Namen bezeichnet werden kann), darin besteht der besondere Schrecken, den der Muselmann ins Lager einführt, und den das Lager in die Welt einführt.« Ibid., S. 61.
5 Ibid., S. 49.
6 Ibid., S. 50.
7 »Leben und Tod, Würde und Unwürde. Zwischen ihnen oszilliert die wahre Chiffre von Auschwitz – der Muselmann, der ›Nerv des Lagers‹, den ›niemand sehen will‹ und der in jedes Zeugnis eine Lücke einschreibt –, ohne je ihren endgültigen Ort zu finden. Er, der Muselmann, ist wirklich das Gespenst, das unsere Erinnerung nicht zu begraben vermag, der Nicht-zu-Verabschiedende, mit dem wir weiterhin zu rechnen haben. […] Wenn das wirklich wahr ist – was meint der Überlebende dann, wenn er vom Muselmann als dem ›vollständigen Zeugen‹ spricht, dem einzigen, dessen Zeugnis eine allgemeine Bedeutung haben würde? Wie kann der Nicht-Mensch Zeugnis ablegen vom Menschen, wie kann der, der per definitionem nicht Zeugnis ablegen kann, der wahre Zeuge sein?« Ibid., 71-72.
8 »In diesem Nicht-Ort der Artikulation hat die Dekonstruktion ihre ›Spur‹ und ihre différance eingeschrieben, in der Stimme und Schrift, Bedeutung und Präsenz einander unendlich aufschieben. […] Doch diese Unmöglichkeit, das Lebewesen und die Sprache, die phõné und den lógos, das Nicht-Menschliche und das Menschliche miteinander zu verbinden, rechtfertigt nicht etwa den unendlichen Aufschub der Bedeutung: vielmehr erlaubt gerade sie das Zeugnis. Wenn es kein Gelenk zwischen dem Lebewesen und der Sprache gibt, wenn das Ich in dieser Kluft schwebt, dann ist Zeugnis möglich. Die Intimität ist der Ort des Zeugnisses. Das Zeugnis findet Statt im Nicht-Ort Artikulation. Am Nicht-Ort der Stimme steht nicht die Schrift, sondern der Zeuge.« Ibid., S. 113-114.
9 »Das Paradox besteht dabei im folgenden: Wenn vom Menschlichen wirklich nur der Zeugnis ablegen kann, dessen Menschsein zerstört worden ist, dann bedeutet dies, dass die Identität von Mensch und Nicht-Mensch nie vollkommen ist, dass es nicht möglich ist, das Menschliche vollständig zu zerstören, dass immer ein Rest übrig bleibt. Dieser Rest ist der Zeuge.« Ibid., S. 117.
Der Riss. Der Platz als Zeuge –
Die Kunstgalerie Heinemann
Fassadeninstallation, München 2006
Fassadenposter in der Nachbarschaft
Lenbachplatz 5 – Geschäftssitz einer Familie von Münchner Galeristen und Mäzenen
Beschreibung
An der Fassade des Gebäudes am Lenbachplatz 5 in München ließ Stefan Römer ein großformatiges Poster anbringen (Ink-Jet-Print auf Netzvinyl). Druckmotiv war eine exakte Imitation der historischen Hausfassade, erstellt anhand einer Abbildung aus dem Buch »München und seine Bauten nach 1912« (Bruckmann 1984) von 1910, auf der auch der Schriftzug der »Gemäldegalerie Heinemann« zu sehen ist (Stadtarchiv München). Das Fassadenposter ließ die Hälfte der Fassade frei, die Schnittkante war als unregelmäßiger Riss gestaltet.
Hintergrund
David Heinemann wurde 1819 geboren und studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste München von 1838 bis 1841. Erst 1852 erhielt er die offizielle Erlaubnis zur »Ansässigmachung«; 1883 eröffnete er eine Kunsthandlung im Hotel Max Emanuel am Promenadeplatz, die einen ausgezeichneten Ruf genoss. Nach seinem Tod 1902 führten die Söhne Hermann und Theobald Heinemann die Galerie erfolgreich weiter – ab 1913 in neuen Räumlichkeiten am Lenbachplatz 5 – und zeichneten sich als wichtige Förderer der Münchner Kunstszene aus. Als Theobald Heinemann 1929 starb, übernahmen seine Frau Franziska und sein Sohn Fritz die Galerie. Nach der »Reichskristallnacht« 1938 wurde das Geschäft geschlossen und Franziska Heinemann vorübergehend wegen angeblicher Devisenvergehen ins Gefängnis Stadelheim gebracht. Sie konnte später wie ihr Sohn nach Luzern emigrieren, wo sich die Familie eine neue Existenz aufbaute. Der Nichtjude und bisherige leitende Angestellte der Galerie Friedrich Heinrich Zinckgraf übernahm das Geschäft und leitete es bis zu seinem Tod 1954 als »Galerie am Lenbachplatz« weiter.
Essay
»Wie kann man der abwesenden jüdischen Kultur eine Stimme verleihen, ohne dabei in ihrem Namen zu sprechen?«¹
Mit diesem Zitat des Architekten des Jüdischen Museums in Berlin, Daniel Libeskind, resümiert James E. Young in seiner Untersuchung »Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur« die Bedingungen und Möglichkeiten einer Gedenkarchitektur. Die von Libeskind aufgeworfene Frage bringe ich für die Konzeption meiner Installation über die Galeristen-Familie David Heinemann am Lenbachplatz in München in direkten Zusammenhang mit einer Untersuchung des italienischen Religionsphilosophen Giorgio Agamben. Er fragt nach einer extremen Autorschaft für das Unvorstellbare, nach der Wichtigkeit und der Möglichkeit des Berichtens, des Zeugnisablegens über das, was in den Konzentrationslagern geschah. In Agambens Lektüre dieser Literatur entsteht das Paradox, dass nur die Überlebenden berichten konnten; aber sie taten dies mit einem Schuldempfinden gegenüber denjenigen, die die Lager nicht überlebt haben. Dies nennt Agamben die »ethische Aporie von Auschwitz: es ist der Ort, an dem es nicht anständig ist, anständig zu bleiben, an dem diejenigen, die glaubten, Würde und Selbstachtung zu bewahren, Scham denen gegenüber empfinden, die diese sofort verloren.«²
Um nun das »Ende jeder Ethik der Würde und der Angleichung an eine Norm«³ definieren zu können (denn verstehbar kann es nicht sein), das im Konzentrationslager herrschte, analysiert Agamben in den Berichten der Überlebenden die Figur des »Muselmanns«⁴, die nach Bettelheim gegenüber den anderen KZ-Insassen diejenige ist, die »den unverzichtbaren Spielraum der Freiheit aufgegeben und infolgedessen jede Spur von Gefühlsleben und Menschlichkeit verloren hat«.⁵
An dieser Figur zeichnet sich eine ethische Differenz ab: »Das Prinzip ›keiner will den Muselmann sehen‹ schlägt hier auch auf den Überlebenden durch: Nicht nur verfälscht er sein eigenes Zeugnis (alle Zeugen berichten übereinstimmend, dass niemand im Lager ›freundlich zu den Muselmännern‹ war), sondern er ist sich nicht einmal dessen bewusst, dass er menschliche Wesen in ein irreales Modell verwandelt hat, in eine vegetative Maschine zu dem Zweck, die Unterscheidung von etwas zu ermöglichen, das im Lager ununterscheidbar geworden ist: menschlich und unmenschlich.«⁶
Hier scheint sich eine existenzielle Involviertheit des Berichtenden in das Schicksal derjenigen abzuspielen, die nicht mehr berichten können, und sie affiziert den Bericht, die Darstellung.⁷ Diesen Extremfall des dokumentarischen Akts beziehe ich auf die Form des memoralen Monuments, das in einem so genannten öffentlichen Raum situiert ist. Eine solche existenzielle Hinterfragung der Repräsentation sollte hinter jeder künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema jüdischen Lebens in Deutschland stehen, die sich öffentlich präsentiert. Doch möchte ich auch die Frage stellen: Handelt es sich bei der Zurschaustellung eines Monuments in der Stadt per se um öffentlichen Raum? Der gegenwärtige öffentliche Raum scheint mir deshalb nicht mehr einer traditionell bürgerlich öffentlichen Sphäre zugehörig, weil er vor allem durch korporative Interessen dominiert wird. Dieser Raum ist einfach so teuer, dass nur große Unternehmen es sich leisten können, dort kommunikativ – das heißt zum Beispiel mit Werbung – und räumlich – das heißt mit Immobilien – zu agieren; er steht politisch nicht mehr allen offen. Zudem zieht sich die politische Verwaltung dieses Raums, die Stadtverwaltung, die »öffentliche Hand«, zunehmend aus der Verantwortung zurück. Deshalb arbeite ich in diesem Bereich künstlerisch vor allem mit den dort üblichen Medien und lehne memorale Denkmäler oder langfristige Installationen ab.
Meine Installation »Die Kunstgalerie Heinemann« am Lenbachplatz 5 geht von der Wichtigkeit und der Komplexität der Familiengeschichte von David Heinemann, seinen beiden Söhnen sowie ihrer Nachfahren für die Münchner Galerien und Kunstsammlungen Anfang des 20. Jahrhunderts aus. Das Haus wurde 1903/04 für die Galeristenfamilie gebaut. Aus der Galerie Heinemann ist eine Reihe hervorragender und für die Geschichte der Münchener Kunst symbolträchtiger Gemälde in den Besitz der Pinakothek und somit des bayerischen Staates übergegangen. Meine primären Informationen dazu basieren auf der vom Kulturreferat recherchierten Familiengeschichte der Heinmanns. Meine Arbeit entstand in Kooperation mit Marcel Odenbachs Projekt für das Kulturreferat der Landeshauptstadt München »Jüdisches Leben in München«.
Ursprünglich bestand mein Vorhaben in einer Doppelstrategie: Die Gebäudefassade an der Straße (außen) sollte als Hinweis auf eine Aktion der Historisierung fungieren; im Verkaufsraum des Golfausrüstungsladens (innen), der sich nun in den ehemaligen Galerieräumen befindet, sollte eine Ausstellung stattfinden: Reproduktionen von wichtigen Gemälden, die die Heinemanns in ihrer Galerie ausgestellt und zum Teil als Schenkungen und Dauerleihgaben an Münchner Museen gegeben hatten. Die Kombination dieser Elemente schien mir eine optimale Strategie, um die verloren gegangene Verbindung zwischen der Tätigkeit der Galeristenfamilie und dem so genannten Bayerischen Kulturgut zu markieren.
Wie aus diesem Punkt ersichtlich, wurde das Einvernehmen mit dem Besitzer und den Mietern als Nutzern des Gebäudes zur Realisierung des Projekts unabdingbar. Meiner Ansicht nach wäre das Projekt jedoch nur dann komplett realisiert worden, wenn die Nutzer des Hauses durch eine temporäre öffentliche Funktion im Sinne einer Ausstellung in die Aktion eingebunden worden wären. Leider überstieg mein Entwurf die finanziellen Möglichkeiten des Projekts »Jüdisches Leben, jüdische Geschichte und jüdische Kultur in München«, weshalb er nicht ganz realisiert werden konnte.
Somit kam es nur zu einer Installation an der Hausfassade am Lenbachplatz 5: ein Fassadenposter, das eine exakte visuelle Imitation der halben Fassade in Schwarzweiß darstellt – so als wäre eine alte Fotografie zerrissen –, wobei die andere Hälfte der Gebäudeansicht frei bleibt. Das Fassadenposter markiert das Haus für die Zeit der Ausstellung als einen besonderen Ort. Dass eine Fassade überhaupt auf diese Weise genutzt werden kann, bezieht die hier gegebene Möglichkeit ein, dass das Haus aufgrund seiner exponierten Lage aus der Distanz betrachtet wird und Bestandteil der repräsentativen historistischen Architektur am Lenbachplatz ist. Die zerrissene Darstellung der Fassade meint den imaginären Riss, der durch den Nationalsozialismus und die »Arisierung« der Galerie an diesem Ort entstanden ist: Die Familie Heinemann floh in die Schweiz, das Geschäft wurde »arisiert« und der ehemalige Assistent Friedrich Heinrich Zinckgraf übernahm die Galerie. Das Motiv des Risses spielt eine große Rolle in den Schilderungen der Zeugen des Nazi-Regimes. Wie Agamben bemerkt, tritt der »Riss in der Erinnerung« in den Nürnberger Prozessen sowohl bei den Opfern als auch bei den Tätern immer wieder auf. Das emblematische Motiv des Risses kann, bezogen auf die Hausfassade, auch die Konnotation des »Fassade-Herunterreißens« erhalten. Die Architektur wird in diesem Falle als repräsentative Folie verstanden, die sich den historischen Veränderungen des Straßenbildes anpasst. In diesem Kontext kommt dem Fassadenposter im Sinne einer Werbung vor allem die Funktion zu, Aufmerksamkeit zu erzeugen – so die Fassadennachahmung des Osramgebäudes am Stachus ähnlich einer typisch bayerischen Lüftlmalerei, die während der Bauarbeiten die Originalansicht simuliert; dem entgegen war das neutral weiße Baufassadenposter vor der benachbarten Münchner Börse am Lenbachplatz frei von Werbung.
Mit meiner Inszenierung des Risses zeigt sich eine direkte Verbindung zwischen Marcel Odenbachs Projektentwurf und meiner Konzeption; er schreibt in seinem Projektentwurf: »Bei diesem Projekt soll es nicht um den Genozid als solchen gehen, nicht um die Darstellung des Leids, des Verbrechens und der Gewalt, sondern um die daraus resultierende Konsequenz. Nicht aber um die Konsequenz einer Schuldzuweisung durch die Einteilung in Täter und Opfer, sondern es soll um einen entstandenen Verlust gehen. Nämlich um den Verlust für jeden Einzelnen, für die Gesellschaft, für das kulturelle Leben, für den alltäglichen Lebensraum, für das gesamte Stadtbild. Es fehlt der Nachbar, das Geschäft, der Onkel, der Schulfreund etc., und wenn etwas fehlt, entsteht eine Lücke.« Genau hierauf beziehe ich die Figur des Risses, der die alte Fotografie von der heutigen Fassade trennt. Die visuell zerrissene Fassade bedeutet eine bewusste »Irritation im Stadtbild« (Marcel Odenbach).
Das Medium des Fassadenposters ist die aktuelle Form, an der sich die Korporatisierung des öffentlichen Raums darstellt; deshalb streiche ich »öffentlich« durch. Der Illusionismus hat Warenform angenommen, er wurde von einer Schmuckform der Architektur zu einer Kommerzialisierung der Fassade. Diese gilt es in einer künstlerischen Installation symbolisch herunterzureißen.
Während der Riss in der Fassade öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen sollte, wäre es bei der nicht realisierten Ausstellung im Golfgeschäft darüber hinaus um das Paradox eines fiktiven Projekts gegangen, indem Gemälde gezeigt worden wären, die früher aus diesem Geschäft verkauft worden sind. Es sollte jedoch keine künstliche Raumumfunktionierung für die Ausstellung vorgenommen oder eine historische Ausstellung rekonstruiert werden. Vielmehr sollten die von mir nach historischen und inhaltlichen Bezügen ausgewählten Gemälde in die Dekoration des Golf-Geschäfts integriert und somit nur für diejenigen KunstbetrachterInnen sichtbar werden, die das Geschäft speziell aufsuchen, um sich diese Ausstellung anzusehen.
Auch hier geht es mir um ein Wörtlichnehmen von Marcel Odenbachs Entwurf: »Es ist schwierig, die Umsetzung mit Bildern zu füllen, da es kaum konkretes Material gibt. Die Geschichten und Schicksale sind nicht mehr wirklich sichtbar; sie sind mitgenommen und beseitigt worden, ihre Existenz ist fast virtuell. Also muss man Material rekonstruieren oder Vorhandenes umfunktionieren.«
Mit dieser Arbeit an diesem Ort soll deutlich werden, dass es mir ganz dezidiert um eine Bezugnahme heutiger künstlerisch intellektueller Praxis auf den »Riss« geht, der durch die Austreibung jüdischen kulturellen Kapitals und sozialen Kontexts (im Sinne des Kultursoziologen Pierre Bourdieu) aus der deutschen Kultur entstanden ist. Welche Rolle spielt es bei der Betrachtung von Gemälden im Museum, dass diese vielleicht nur dort zu finden sind, weil sie der Galerist Heinemann der Pinakothek verkauft oder gar geschenkt hat? Wie wäre die Entwicklung der Kunst in München verlaufen, wenn dieser historische Riss nicht erzeugt worden wäre?
Mit meiner künstlerischen Arbeit versuche ich, an dieser Stelle die Funktion jüdischer Kultur im urbanen Text zu artikulieren, um einen Ort als Zeugen zu inszenieren.⁸ Mir geht es darum, einen Riss zu markieren, einen Riss zwischen dem Anwesenden und dem Verlorenen – der Ort als Zeuge.⁹
1 Daniel Libeskind zitiert in: James E. Young, Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur (2000), Hamburg 2002, S. 192.
2 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M. 2003, S. 52.
3 Ibid., S. 61.
4 »Der Zustand zwischen Leben und Tod erwies sich als einer der feststehenden Züge in der Beschreibung des Muselmanns: Er ist schlechthin der wandelnde Leichnam. […] Dass der Tod eines menschlichen Wesens nicht mehr Tod genannt werden kann (nicht einfach nur, dass er keinerlei Bedeutung besitzt – das hatte es in der Geschichte bereits gegeben –, sondern genau dies, dass es nicht mehr mit diesem Namen bezeichnet werden kann), darin besteht der besondere Schrecken, den der Muselmann ins Lager einführt, und den das Lager in die Welt einführt.« Ibid., S. 61.
5 Ibid., S. 49.
6 Ibid., S. 50.
7 »Leben und Tod, Würde und Unwürde. Zwischen ihnen oszilliert die wahre Chiffre von Auschwitz – der Muselmann, der ›Nerv des Lagers‹, den ›niemand sehen will‹ und der in jedes Zeugnis eine Lücke einschreibt –, ohne je ihren endgültigen Ort zu finden. Er, der Muselmann, ist wirklich das Gespenst, das unsere Erinnerung nicht zu begraben vermag, der Nicht-zu-Verabschiedende, mit dem wir weiterhin zu rechnen haben. […] Wenn das wirklich wahr ist – was meint der Überlebende dann, wenn er vom Muselmann als dem ›vollständigen Zeugen‹ spricht, dem einzigen, dessen Zeugnis eine allgemeine Bedeutung haben würde? Wie kann der Nicht-Mensch Zeugnis ablegen vom Menschen, wie kann der, der per definitionem nicht Zeugnis ablegen kann, der wahre Zeuge sein?« Ibid., 71-72.
8 »In diesem Nicht-Ort der Artikulation hat die Dekonstruktion ihre ›Spur‹ und ihre différance eingeschrieben, in der Stimme und Schrift, Bedeutung und Präsenz einander unendlich aufschieben. […] Doch diese Unmöglichkeit, das Lebewesen und die Sprache, die phõné und den lógos, das Nicht-Menschliche und das Menschliche miteinander zu verbinden, rechtfertigt nicht etwa den unendlichen Aufschub der Bedeutung: vielmehr erlaubt gerade sie das Zeugnis. Wenn es kein Gelenk zwischen dem Lebewesen und der Sprache gibt, wenn das Ich in dieser Kluft schwebt, dann ist Zeugnis möglich. Die Intimität ist der Ort des Zeugnisses. Das Zeugnis findet Statt im Nicht-Ort Artikulation. Am Nicht-Ort der Stimme steht nicht die Schrift, sondern der Zeuge.« Ibid., S. 113-114.
9 »Das Paradox besteht dabei im folgenden: Wenn vom Menschlichen wirklich nur der Zeugnis ablegen kann, dessen Menschsein zerstört worden ist, dann bedeutet dies, dass die Identität von Mensch und Nicht-Mensch nie vollkommen ist, dass es nicht möglich ist, das Menschliche vollständig zu zerstören, dass immer ein Rest übrig bleibt. Dieser Rest ist der Zeuge.« Ibid., S. 117.